eNews 45 | Dezember 2013

Grenzfall tarifvertraglich vereinbarte Betriebsverfassung

Wer vertritt die Arbeitnehmer, wenn der örtliche Betriebsrat in den überregionalen überführt wird?

 
Für die Wahl der Interessenvertretung der Beschäftigten ist der Betrieb nach § 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) der relevante Bezugspunkt. Das Gesetz gibt dabei jedoch keine Definition des Begriffs „Betrieb“. In der globalisierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist der klassische Betrieb – arbeitsrechtlich definiert als „organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe technischer und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt“ – längst von anderen Strukturen überlagert. Beschäftigte eines Betriebes müssen nicht mehr im selben Gebäude oder am selben Standort arbeiten. So ist es nur konsequent, dass auch durch einen Tarifvertrag vom Gesetz abweichende Formen und Strukturen der betrieblichen Interessenvertretung geregelt werden können. Die Modalitäten definiert § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG und eröffnet so den Tarifpartnern eine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten. Welche Auswirkungen haben diese aber auf die Arbeitnehmervertretung, wenn aufgrund von Umstrukturierungen im Unternehmen der örtliche Betriebsrat in den größeren überregionalen überführt wird?

Mit § 3 BetrVG will der Gesetzgeber „maßgeschneiderte“ Organisationseinheiten zur Verfügung stellen, welche die „starre Anbindung des Betriebsrats an den Betrieb als ausschließliche Organisationsbasis“ auflösen kann. Die Regelungen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG sollen es nach der Gesetzesbegründung „den Tarifvertragsparteien ermöglichen, auf zukünftige, neue Entwicklungen von Unternehmensstrukturen in Produktion und Dienstleistung angemessen zu reagieren und entsprechende Arbeitnehmervertretungssysteme errichten zu können, ohne dabei auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers angewiesen zu sein" (vgl. BT-Drucks. 14/5741 S. 34). Dabei kommt den Tarifvertragsparteien ein Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum in dem durch § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG bestimmten Umfang zu.

§ 3 Abs. 1 BetrVG ermöglicht inhaltlich eine Vielzahl unterschiedlicher Umsetzungen

Es kann ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat gebildet werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1a BetrVG). Mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten müssen dann nicht mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gremien verhandelt werden und die Einführung unternehmenseinheitlicher Arbeitsbedingungen wird erleichtert.

Im Unternehmen können auch einzelne Betriebe zu einem Betrieb zusammengefasst werden (§ 3 Abs. Nr. 1b BetrVG), die dann als ein Betrieb im Sinne des BetrVG gelten (§ 3 Abs. 5 S. 1 BetrVG). Denkbar ist dies insbesondere bei einer Filial- und Regionalstruktur. So kann eine neue Arbeitnehmervertretung gebildet werden, die Partikularinteressen bestimmter Belegschaftsbereiche bündelt und einer Interessenverfolgung ohne Rücksicht auf übergreifende Zusammenhänge entgegenwirkt.
 
Es kann durch Tarifvertrag unternehmens- oder konzernbezogen eine spartenbezogene Bildung von Betriebsräten vereinbart werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Die Sparte wird dabei als produkt- oder projektbezogener Geschäftsbereich definiert. Hier liegt der Vorteil darin, dass die Mitglieder des Betriebsrats notwendig der Sparte angehören und dem Arbeitgeber als mit den Sachfragen vertraute Verhandlungspartner gegenüber stehen. Darüber hinaus ist die gebotene Betroffenheit der Betriebsratsmitglieder in Bezug auf die mitbestimmungsrechtlich relevanten Angelegenheiten gegeben.

Darüber hinaus können „andere Arbeitnehmerstrukturen bestimmt werden, soweit dies insbesondere aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Damit ermöglicht der vom Gesetzgeber bewusst offen konzipierte § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG die Bildung „sonstiger“ Arbeitnehmerstrukturen, die an die Stelle der vom Gesetz an sich vorgegebenen Strukturen treten.

Eine umfassende Neuorganisation ist möglich

Auf der Grundlage von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG kann

  • die Aufteilung eines Betriebs in mehrere betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten,
  • die betriebsübergreifende Zusammenfassung von Betriebsteilen,
  • die unternehmensübergreifende Zusammenfassung von Betrieben oder
  • die Bildung eines unternehmensübergreifenden Gesamtbetriebsrates erfolgen.

Wirksamkeitsvoraussetzung ist dabei, dass die Bildung der entsprechenden Struktur der Arbeitnehmervertretung „einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient“.

Bundesarbeitsgericht klärt Voraussetzungen für Tarifverträge auf der Grundlage § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG

In der Vergangenheit haben die Tarifvertragsparteien vielfach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG zur Rechtsgrundlage erklärt, wann immer sie es für zweckmäßig erachteten, einen Zuordnungstarifvertrag abzuschließen. Allerdings war lange Zeit unklar, welche Vertretungsstrukturen überhaupt von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG erfasst sind. Im Beschluss vom 13.03.2013 (Az. 7 AZR 70/11) hat sich das BAG erstmals umfangreicher zu den Voraussetzungen für die auf § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gestützten Tarifverträge geäußert.

Gegenstand des Beschlusses war die Neuwahl zu einem unternehmensübergreifenden Regionalbetriebsrat. Der Antragsteller und weitere verbundene Unternehmen hatten 2002 mit ver.di einen Tarifvertrag zur Bildung einheitlicher Betriebsrats- und Gesamtbetriebsratsstrukturen (Zuordnungstarifvertrag) abgeschlossen. Dieser sah die Zusammenfassung der Betriebe aller Unternehmen zu Wahlregionen vor, in denen jeweils ein Regionalbetriebsrat zu wählen war. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Betriebe der beteiligten Unternehmen durch Regionalleitungen geführt.

Im April 2004 wurde die Regionalstruktur aufgegeben, und die Regionalleitungen wurden abgeschafft. Im Oktober 2004 schlossen die Unternehmen nach Umbildung der Konzernstruktur mit ver.di einen neuen, jedoch im Wesentlichen inhaltsgleichen Tarifvertrag. Im Falle einer Kündigung sollte der Tarifvertrag nicht nachwirken. Die beteiligten Unternehmen kündigten Ende 2009 den Tarifvertrag fristgerecht zum 31.03.2010. Bis Ende März 2010 fanden Betriebsratswahlen nach dem bestehenden Zuordnungstarifvertrag statt. Diese hat der Arbeitgeber mit der Begründung angefochten, dass der Zuordnungstarifvertrag unwirksam sei, da die Regionalstruktur bei Abschluss des Tarifvertrages im Oktober 2004 nicht mehr bestanden habe.

Das BAG hielt die Wahlanfechtung für begründet. Bei der Wahl des Regionalbetriebsrats Mitte sei der Betriebsbegriff verkannt worden. Die Wahl hätte nicht in der nach dem Zuordnungstarifvertrag festgelegten Wahlregion Mitte durchgeführt werden dürfen. Der Tarifvertrag sei unwirksam. Er entspreche nicht den Erfordernissen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG. Denn die Regionalstruktur und Regionalleitungsebene der beteiligten Unternehmen sei bei Abschluss des Zuordnungstarifvertrages 2004 bereits aufgegeben gewesen, so dass die von den Tarifparteien noch im Jahr 2002 bezweckte Kongruenz von Regionalbetriebsräten und tatsächlichen Entscheidungsträgern auf Seiten der Unternehmen von vornherein nicht mehr zu erreichen gewesen sei.

Die Anwendung von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG muss zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen „besser geeignet sein“ als die gesetzliche Struktur

Das BAG sieht § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG als offenen Tatbestand, der anhand wertungsmäßig vergleichbarer Strukturen fortgeschrieben werden kann. Allerdings sei mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG die Organisation der Betriebsverfassung nicht gänzlich in die Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt. Der entsprechende Paragraf ermögliche tarifvertragliche Vereinbarungen vielmehr nur insoweit, als sie den Voraussetzungen der gesetzlichen Öffnungsklausel entsprechen. Dabei seien die Voraussetzungen nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 BetrVG von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG abzugrenzen.

Erforderlich sei für § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ein Zusammenhang zwischen vornehmlich organisatorischen oder kooperativen Spezifika auf Arbeitgeberseite und wirksamer sowie zweckmäßiger Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Die vereinbarte Struktur müsse im Hinblick auf diesen Zusammenhang zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen „besser geeignet" sein als die gesetzliche. Im Unterschied zu § 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BetrVG knüpfe § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG an besondere Umstände – vornehmlich betriebs-, unternehmens- oder konzernbezogene organisatorische oder unternehmenskooperative Rahmenbedingungen – an. Die Nrn. 1 und 2 von § 3 Abs. 1 BetrVG wären überflüssig, wenn Nr. 3 kein davon abzugrenzender Regelungsgehalt zukäme.

Schließlich sei Sinn und Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, den Tarifvertragsparteien in besonderen Konstellationen, in denen sich die im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehene Organisation für eine wirksame und zweckmäßige Interessenvertretung der Arbeitnehmer als nicht ausreichend erweist, die Möglichkeit zu eröffnen, in einem Tarifvertrag durch eine Änderung der Strukturen der Arbeitnehmervertretung für Abhilfe zu sorgen. Dreh- und Angelpunkt ist damit die „Dienlichkeit“ der durch den Tarifvertrag geregelten Struktur für die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen. Das BAG hat klargestellt, dass der Begriff „dient“ nicht nur im Sinne von „nicht schadet“, sondern vielmehr im Sinne von „besser geeignet“ für die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen zu verstehen ist.

Grenzen des Zuordnungstarifvertrages nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG

Fraglich bleibt jedoch, ob ein Zuordnungstarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auch dann für die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen „besser geeignet“ ist, wenn er vorsieht, dass die Zuordnung zu Regionen auch für Betriebe gilt, die während der Laufzeit des Zuordnungstarifvertrages von einem der vertragsschließenden Unternehmen übernommen werden, und dies zur Folge hat, dass die seit Jahren bestehenden örtlichen Betriebsräte des übernommenen Unternehmen untergehen. Eine bislang eigenständige, nach § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG betriebsratsfähige Belegschaft wird damit einer so überwältigenden Mehrheit unterworfen, dass ihre Anliegen vernachlässigbar werden.

In einem laufenden Beschlussverfahren streiten derzeit zwei örtliche Betriebsräte für ihr Fortbestehen, deren jeweiliger Betriebsrat aufgrund der Verschmelzung ihres Unternehmens mit einem anderen Unternehmen von einem 50 km entfernten Regionalbetriebsrat geschluckt wurde. Im konkreten Fall hatte das übernehmende Unternehmen in einem Tarifvertrag nach § 3 BetrVG die Zusammenfassung von Betrieben zu Regionen vereinbart. Sämtliche in den jeweiligen Regionen gelegene Betriebsstätten werden untereinander zugeordnet mit der Folge, dass die in dieser Region tätigen Mitarbeiter einen gemeinsamen Betriebsrat wählen, dessen Zuständigkeit sich auf alle zusammengefassten Betriebsstätten erstreckt. Diese Regelung gilt nach dem Tarifvertrag auch für Betriebe, Betriebsteile oder Nebenbetriebe, die während der Laufzeit des Tarifvertrages durch eines der vertragsschließenden Unternehmen im Wege der Verschmelzung hinzukommen.

Die Autorin ist der Auffassung, dass der vorgenannte Zuordnungstarifvertrag nicht den Anforderungen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG genügt und damit unwirksam ist. Denn die Zusammenfassung von Betriebsstätten erfolgt hier so großflächig, dass eine Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer leidet. Der Sitz des Regionalbetriebsrats ist jetzt 50 km entfernt. Es kann von keiner „Dienlichkeit“ mehr gesprochen werden und ist weder sachgerecht noch zweckmäßig und schon gar nicht im Interesse der Arbeitnehmer, wenn weder die Mitglieder eines Regionalbetriebsrats noch der Regionalbetriebsrat als Gremium in der Lage sind, sich aus eigener Anschauung ein Bild über die Verhältnisse zu machen, oder die Arbeitnehmer in diesen Betriebsstätten den Betriebsrat überhaupt erreichen und aufsuchen können.

Die Regionalstruktur und Regionalleitungsebene der Unternehmen entspricht zwar den Regionalbetriebsräten. Der Sinn und Zweck einer regionalen Struktur kann letztendlich aber nur darin gesehen werden, dass auch kleine Betriebe und Betriebsstätten mit nur wenigen Mitarbeitern mitbestimmungsrechtlich handlungsfähig werden. Die klagenden Betriebsräte repräsentieren jedoch jeweils um die 100 Mitarbeiter. In ihren Betrieben bestand seit Jahrzehnten ein von den Mitarbeitern getragener und regelmäßig gewählter Betriebsrat. Die Mitarbeiter haben einen Anspruch darauf, dass dieser von ihnen gewählte Betriebsrat seine Arbeit und Funktion ausübt. Da das Gremium demokratisch legitimiert ist und die Mitarbeiter im Betrieb repräsentiert, sollten die von der Verschmelzung betroffenen Betriebe als betriebsratsfähige Einheit fortbestehen und die örtlichen Betriebsräte nicht von den Regionalbetriebsräten geschluckt werden. Das Arbeitsgericht Darmstadt und das LAG Hessen haben dies – in einem parallel laufenden Verfahren – bisher anders gesehen. Allerdings hat das BAG die Rechtsbeschwerde eines beteiligten Betriebsrates gegen den Beschluss des LAG Hessen vom 12.04.2012 (9 TaBV 35/11) zugelassen. Es bleibt also spannend.
 
Sarah Wékel, Pflüger Rechtsanwälte GmbH

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