eNews 50 | November 2014

Wir sind die Gewerkschaft! Eine für alle – ein Auslaufmodell?

Streik bei der Bahn, Streik bei der Lufthansa, Deutschland ist in Aufruhr: Seit Wochen halten Piloten und Lokführer die Nation in Atem und sorgen für Schlagzeilen. Wenig wird dabei jedoch über Gründe und Forderungen in den Medien berichtet. Heftig gestritten und diskutiert wird über die Berechtigung von Spartengewerkschaften. Ende Oktober präsentierte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles nun ein Gesetz zur Tarifeinheit. Ziel sei die Einigung verschiedener Gewerkschaften in einem Betrieb. Es geht um die grundsätzlich Frage: Dürfen sich im selben Betrieb einzelne Berufsgruppen organisieren und ihre Forderungen mittels Streik durchzusetzen versuchen? Das Grundgesetz formuliert hier sehr klar: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“. Schon der Verfassungswortlaut legt nahe, dass Berufsgewerkschaften an der Grundrechtsgarantie der Koalitionsfreiheit partizipieren sollen.

Sind nur viele mächtig?

In Artikel 9 Absatz 3 garantiert das Grundgesetz die Tarifautonomie sowie das Recht der Gewerkschaften zum Streik. Die Verfassung überlässt damit den Tarifparteien das Feld für eine Selbstregulation staatsfreier Art. Teilnahmeberechtigte an der autonomen Aushandlung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen sind alle Organisationen, die Regelungsmacht entfalten können. Mit anderen Worten: Die mächtig genug sind, um dem Sozialpartner auf Arbeitgeberseite notfalls auch extreme Schmerzen bereiten zu können. Streiks sollen wehtun, damit sie abschreckend wirken und die Interessen der vertretenen Mitglieder durchgesetzt werden können. Dies ist keine Klassenkampfideologie, sondern ein durch die Verfassung geschützter Kernbereich. Warum also einschreiten und Gesetzesänderungen fordern, wenn Berufsgewerkschaften Druck ausüben?

Ein Blick zurück

Die Einheitsgewerkschaften waren nach dem Krieg die natürlichen Tarifparteien. Mit Organisationsgraden von teilweise über achtzig Prozent waren sie machtvoll und in der Lage, die Interessen aller Berufsgruppen in ihrem Bereich zu vertreten. Die eigenständige Vertretung jeder Berufsgruppe für sich war überflüssig, weil die DGB-Gewerkschaften in der Lage waren, das Gemeinwohl aller Beschäftigten zum Ausdruck und zur Durchsetzung zu bringen. Von diesen Anfängen, die im Antifaschismus ihren Ursprung haben, sind die DGB-Gewerkschaften heute weit entfernt.

Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen erfordern andere Organisationsstrukturen
Die DGB-Gewerkschaften vertreten längst nicht mehr alle Berufsgruppen ihres Industrieverbands. Dazu fehlen die Mitgliederstärken, und die Berufsfelder haben sich in vergangenen 20 Jahren radikal verändert. Zudem haben die DGB-Gewerkschaften einzelne Berufsgruppen mit ihren spezifischen Interessenlagen lange Zeit ignoriert. Piloten standen aus ihrer Sicht dem Arbeitgeber näher (das sah die Lufthansa genauso); sie mussten nicht vertreten werden. Lokführer waren früher mehrheitlich Beamte, die in Arbeitskämpfe nicht einbezogen werden konnten. Dass Ärzte überhaupt gewerkschaftlich organisierbar wären, wurde bezweifelt. Diese Berufe waren keine „Zielgruppe“ bei der Aufstellung von Tarifforderungen, warum sie also berücksichtigen? Inzwischen gibt es aber Billigfluglinien, die Piloten zu wesentlich niedrigen Bezügen beschäftigen. Die meisten Lokführer sind keine Beamten mehr. Und Ärzte entdecken, dass auch sie kollektiv für ihre Interessen eintreten müssen. Die fehlende Integrationsfähigkeit der Einzelgewerkschaften ist die Ursache für das Aufkommen der Berufs- und Spartengewerkschaften.

Die Tücken des Gesetzentwurfes

Ein Blick in den nun von der Arbeitsministrin vorgelegten Entwurf zur Tarifeinheit wirft zentrale arbeitsrechtliche Fragen auf:

Wer definiert den „Betrieb“, in dem die Mehrheiten ermittelt werden sollen? Definiert man Betrieb als organisatorische Einheit, so kann dies nur der Unternehmer sein. Dann bestimmte also dieser, in welchem Bereich eine Arbeitnehmerkoalition zugelassen wird! Eine unter verfassungsrechtlichen Aspekten bizarre Vorstellung.

Wie ist der Nachweis zu führen, dass eine Gewerkschaft die Mehrheit der Arbeitnehmer im Betrieb repräsentiert? Der Gesetzentwurf spricht davon, dass der Nachweis auch durch „öffentliche Urkunden“ geführt werden kann. Mit anderen Worten: Ein Notar soll die Mitgliederzahl beurkunden. Notare und nicht Richter sollen vorgeben, wer Mehrheit und wer Minderheit im Betrieb ist. Aber wie soll ein Notar beurkunden, dass die von der beweisführenden Gewerkschaft vorgelegten Mitgliederlisten Arbeitnehmer des Betriebs betrifft? Wie will der Notar nachprüfen, wer satzungsgemäß Mitglied der Gewerkschaft ist? Und kann die Beurkundung durch den Notar ein Gericht überhaupt binden? Es verstieße gegen die verfassungsrechtlich geschützte Unabhängigkeit des Richters, diesem für seine Entscheidung eine Beurkundung diffizilster Sachverhalte durch den Notar vorzugeben. Ausfluss der Unabhängigkeit des gesetzlichen Richters ist der Grundsatz, dass die Beweisaufnahme unmittelbar vor dem erkennenden Gericht stattzufinden hat.

Es mag sein, dass für die Glaubhaftmachung in einem Eilverfahren die notarielle Bestätigung genügt, dass zumindest ein Gewerkschaftsmitglied im Betrieb vertreten ist. Das kann bei dem gesetzlich verordneten „Zählappell“ aber nicht gelten. Gerichtsstreite, in denen den Gewerkschaften abverlangt wird, ihre Mitgliederlisten offen zu legen, sind durch das Tarifeinheitsgesetz vorprogrammiert. Was das für die Unabhängigkeit der Arbeitnehmerkoalitionen bedeutet, liegt auf der Hand.

Angesichts dessen wäre es ehrlicher, mit einer 2/3-Mehrheit die Koalitionsfreiheit und das damit verbundene Streikrecht im Wege der Verfassungsänderung einzuschränken. Durch die Hintertür allein die Spartengewerkschaften in ihrer Betätigungsfreiheit zu beschränken und ihnen faktisch den Arbeitskampf zu erschweren, ist mit der geltenden Verfassung nicht zu vereinbaren – und nebenbei gesagt schlicht unfair.

Gesetzesänderungen verändern nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit

Das staatsgläubige Lager von Arbeitgeberverbänden, Staatsmanagern, DGB und poltischen Parteien glaubt jetzt, dem Entstehen von kleinen, schlagkräftigen Berufsgewerkschaften mit einer von oben verordneten Tarifeinheit entgegentreten zu müssen. Das ist bequem, läuft aber wie gezeigt auf ein verfassungswidriges Gesetz hinaus. Selbst ein geplantes Tarifeinheitsgesetz wird es den DGB-Gewerkschaften nicht ersparen, sich an Kopf und Gliedern zu reformieren und sich auf die Gewinnung von Neumitgliedern unter allen (!) Berufsgruppen auszurichten. Dabei müssen diese dann in Kauf nehmen, dass agilere Kleingewerkschaften ernstzunehmende Konkurrenten werden. Bereits 2010 hat das Bundesarbeitsgericht den Spartengewerkschaften weitergehende Rechte eingeräumt.

Der Ärger über ausgefallene Züge oder Flüge ist verständlich. Aber Verfassungsfragen sind keine Fragen der Tagespolitik. Und sie sollten der Fühligkeit von Stammtischrunden entzogen bleiben. Die Fragmentarisierung in Unternehmen mit der Konsequenz, dass Stammbelegschaft, Leiharbeiter oder Werksvertragsarbeiter für gleiche Leistung unterschiedlichen Lohn erhalten, hat zwangsläufig zur Ausbildung von Partikularinteressen und Entsolidarisierung geführt. Ein Gesetz zur Tarifeinheit, wie aktuell geplant, das weiterhin einem vermeintlichen Mehrheitsprinzip folgt, ignoriert diese Entwicklung.
 
Dr. Norbert Pflüger, Pflüger Rechtsanwälte GmbH

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