eNews 75 | Dezember 2019

BAG stärkt Rechte Schwerbehinderter bei der Sozialplanabfindung

Bei Stellenabbau sollen Sozialpläne oder -tarifverträge die wirtschaftlichen Nachteile für Arbeitnehmer finanziell abmildern. Das geschieht hauptsächlich durch die Zahlung einer Abfindung. Berechnungsgrundlage ist häufig der frühestmögliche Renten­eintrittstermin des betroffenen Arbeitnehmers. Gemäß § 236a SGB VI können schwer­behinderte Menschen – gestaffelt nach Geburtsjahr – bereits ab Vollendung des 63. Lebensjahres eine ungekürzte Altersrente beziehen. Arbeitgeber berufen sich bei schwerbehinderten Mitarbeitern oft auf diese frühere Renteneintrittsmöglichkeit, was die Abfindungshöhe mindert. In einer aktuellen Entscheidung setzte sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) damit auseinander, ob dieses Vorgehen rechtmäßig ist (BAG v. 16.07.2019 – Az. 1 AZR 537/17).

Welcher Sachverhalt liegt der Entscheidung zugrunde?

In dem Fall hatten Arbeitgeber und Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan geschlossen. Inhaltlich verwiesen sie dabei auf einen zwischen dem Arbeitgeber und der IG Metall vereinbarten Sozialtarifvertrag. Die Abfindung sollte 80 Prozent des Nettomonatseinkommens für den „Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente“ betragen. Der klagende Arbeit­nehmer konnte aufgrund seiner Schwerbehinderung zum 1. März 2017 erstmals eine abschlagsfreie Altersrente beziehen. Diesen Zeitpunkt legte der Arbeitgeber bei der Abfindungsberechnung zugrunde, so dass der Kläger eine geringere Abfindung erhielt als es ohne Schwerbehinderung der Fall gewesen wäre. Der Kläger sah darin eine unzulässige Benachteiligung wegen seiner Behinderung und verlangte den Differenz­betrag zu der Abfindung, die ihm bei einem Renteneintritt ohne Schwerbehinderung zugestanden hätte.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?

Das BAG gab dem schwerbehinderten Arbeitnehmer recht. Zwar gestand das Gericht dem beklagten Arbeitgeber zu, dass es ein legitimes Anliegen sei, mit der Abfindung grundsätzlich nur die Zeit bis zum frühestmöglichen Renteneintritt finanziell abzufedern. Es sei auch zu berücksichtigen, dass der Sozialplan nur mit begrenzten Mitteln ausgestattet sei.

Trotzdem knüpfe der Arbeitgeber durch die Orientierung am früheren Renteneintritt mittelbar an das rechtlich geschützte Merkmal der Behinderung an. Das sei nicht zu rechtfertigen, da die besondere Situation schwerbehinderter Arbeitnehmer aus­geklammert werde. Durch die Begrenzung der Abfindung werde ein sozial­versiche­rungs­recht­licher Vorteil zunichte gemacht, der seinen Grund gerade in den besonderen Schwierigkeiten und Risiken schwerbehinderter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt habe. Daher sprach das Gericht dem klagenden Arbeitnehmer eine Abfindung in der Höhe zu, die er ohne Schwerbehinderung bekommen hätte. Das BAG stellte klar, dass dieses Ergebnis für den Arbeitgeber selbst dann hinzunehmen ist, wenn es für ihn mit erheblichen finanziellen Belastungen einhergeht.

Was sollten betroffene Arbeitnehmer beachten?

Die Entscheidung des BAG fügt sich in eine Reihe von Urteilen oberster Gerichte ein, die die Rechte schwerbehinderter Arbeitnehmer in diesem Zusammenhang stärken (insbesondere Europäischer Gerichtshof vom 19.09.2018 – Az. C-312/17 sowie BAG v. 21.11.2017 – Az. 9 AZR 141/17).

Knüpft ein Arbeitgeber an die frühere Renteneintrittsmöglichkeit aufgrund der Schwerbehinderung an, stehen die Chancen also gut, sich dagegen erfolgreich gerichtlich zur Wehr zu setzen. Beruht der Abfindungsanspruch auf einem Sozialplan oder einem Tarifvertrag, kann der Arbeitnehmer den Minderbetrag grundsätzlich auch nach Abschluss eines Aufhebungsvertrages einklagen. Denn ein Verzicht auf solche Ansprüche ist nur mit Zustimmung des Betriebsrats bzw. der Tarifvertragsparteien möglich (§ 77 Abs. 4 BetrVG bzw. § 4 Abs. 4 TVG). Die fehlende Zustimmung muss aber vorher sichergestellt werden. Auch sind eventuell Ausschlussfristen zu beachten, mit deren Ablauf der Abfindungsanspruch verfällt. Daher empfiehlt es sich für betroffene Arbeitnehmer, frühzeitig anwaltliche Beratung in Anspruch zu nehmen.
 
Andreas Lutz, Pflüger Rechtsanwälte GmbH

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