eNews 94 | Juli 2024

Kündigung in der Schwangerschaft: Mehr Zeit für Klageerhebung durch EU-Recht?

Schwangeren Arbeitnehmerinnen steht nach § 17 Mutter­schutz­gesetz ein auf eine EU-Richt­linie zurückgehender Sonder­kündigung­sschutz zu, die Kündigung des Arbeits­verhältnisses durch den Arbeitgeber ist grund­sätzlich unzulässig. Auch für Schwangere gilt jedoch in der Regel die drei­wöchige Frist für die Erhebung einer Kündigungs­schutz­klage nach § 4 KSchG – jeden­falls dann, wenn sie bei Zugang der Kündigung von der Schwanger­schaft wissen. Der Euro­päische Gerichts­hof (EuGH) hat in einer aktuellen Entscheidung Hinweise zu den einzu­haltenden Fristen gegeben, wenn die Arbeit­nehmerin erst zu einem späteren Zeitpunkt von der Schwanger­schaft erfährt (EuGH vom 27.06.2024, Az. C-284/23).

Erlangt die Arbeitnehmerin erst nach Ablauf der dreiwöchigen Klagefrist Kenntnis von der Schwanger­schaft, muss sie nach bisheriger Rechts­lage binnen zwei Wochen ab Kenntnis einen Antrag auf nach­träg­liche Zulassung der Kündigungs­schutz­klage nach § 5 Kündigungs­schutz­gesetz (KSchG) stellen, der mit der eigent­lichen Kündigungs­schutz­klage zu verbinden ist.

Hiergegen hat sich eine Pflege­helferin gewandt, die aufgrund eines auf ein Jahr befristeten Arbeits­vertrages ab dem 1. August 2022 bei einer Pflege­einrichtung in Mainz beschäftigt war. Sie erhielt mit Schreiben vom 6. Oktober 2022 eine Kündigung zum 21. Oktober 2022. Am 9. November 2022 wurde bei der Arbeit­nehmerin eine Schwanger­schaft in der siebten Woche festgestellt, die sie dem Arbeit­geber am 10. November mitteilte. Am 13. Dezember 2022 erhob sie beim Arbeits­gericht Mainz Kündigungs­schutz­klage. Da die Klage nicht innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis der Schwanger­schaft erfolgte, legte das Arbeits­gericht dem EuGH sinngemäß die Frage vor, ob die deutsche Regelung zu den Klage­fristen mit EU-Recht vereinbar sei.

Der EuGH hat nun beanstandet, dass in dieser Situation die Klage­frist für die schwangere Arbeit­nehmerin faktisch auf zwei Wochen verkürzt sei. Das sei auch dann der Fall, wenn die schwangere Arbeit­nehmerin aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund später von der Schwanger­schaft erfahre. Die Verkürzung der Klage­frist sei erheblich, zudem müsse neben dem Antrag auf nach­träg­liche Zulassung auch die eigent­liche Klage erhoben werden. Auch mit Blick auf die besonderen Umstände könne es für die Arbeit­nehmerin sehr schwierig sein, innerhalb dieser Zeit Rechtsrat einzuholen sowie den Zulassungs­antrag und die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen.

Vor diesem Hintergrund kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass eine Frist von zwei Wochen mit dem Grund­satz des effektiven gericht­lichen Schutzes der durch die EU-Richtlinie 92/85 – auf die der Sonder­kündigungs­schutz zurückgeht – verliehenen Rechte unvereinbar zu sein scheint. Ob in konkreten Einzel­fall eine Unverein­bar­keit gegeben ist, ließ der EuGH offen. Hierüber muss nun das vorlegende Arbeits­gericht Mainz entscheiden.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Entscheidung des EuGH dazu führt, dass schwangeren Arbeit­nehmerinnen in der geschilderten Situation mehr Zeit für die Erhebung einer Kündigungs­schutz­klage bleibt. Jedenfalls erscheint eine Angleichung an die auch ansonsten geltende Drei-Wochen-Frist angemessen, da bereits diese Frist bereits recht knapp bemessen ist. Bis zu einer abschließenden gericht­lichen Klärung sollten schwangere Arbeit­nehmerinnen den Zulassungs­antrag und die Kündigungs­schutz­klage jedoch vorsorg­lich binnen zwei Wochen bei Gericht einreichen, wenn sie nach Ablauf der Klage­frist von der Schwanger­schaft erfahren. Die Einholung arbeits­recht­lichen Rats ist in dieser Situation dringend zu empfehlen.
 
Dr. Andreas Lutz, Pflüger Rechtanwälte GmbH

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