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eNews 97 | März 2025
Vertrauen auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Verdienstausfall trotz Arbeitsfähigkeit?
In der Rechtsprechung des BAG ist es anerkannt, dass einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit ein hoher Beweiswert zukommt. Entsprechend können Arbeitgeber nur unter besonderen Voraussetzungen eine Arbeitsunfähigkeit, das damit verbundene erlaubte Fernbleiben von der Arbeit sowie die Entgeltfortzahlung nach den gesetzlichen Bestimmungen infrage stellen.
Die Wirkung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat allerdings auch über das Verhältnis von Arbeitnehmer zu Arbeitgeber hinaus Bedeutung. Dies zeigt eine Entscheidung des BGH vom 08.10.2024 – VI ZR 250/22.
Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger, Mitarbeiter einer Waschstraße, wurde durch das Fahrzeug der beklagten Partei eingeklemmt und erlitt dadurch eine tiefe, klaffende Riss- und Quetschwunde am Unterschenkel. Er begehrte einen Verdienstausfallschaden in Höhe der Differenz zwischen dem Krankengeld und seinem Arbeitsverdienst. Verklagt wurde auch die Versicherung. Die Haftung an sich ist nicht strittig gewesen. Allerdings machte der Kläger einen Betrag in Höhe von EUR 141,09 für je 16 Monate geltend.
Zentraler Streitpunkt zwischen den Parteien war der Zeitraum, für den der Kläger Verdienstausfall begehrte. Er war aufgrund einer ärztlichen Bescheinigung seit dem Tag des Unfalls am 08.05.2019 bis voraussichtlich zum 14.09.2020 arbeitsunfähig erkrankt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes war der Kläger allerdings bereits ein Jahr früher, seit dem 06.09.2019, wieder arbeitsfähig. Wie es zu der länger attestierten Arbeitsunfähigkeit gekommen war, ob dies vorsätzlich oder versehentlich geschah, ist dem Urteil des BGH nicht zu entnehmen.
Es ging im Kern also um die Frage, ob die geltend gemachten Ansprüche auf Verdienstausfall nur bestehen können, wenn objektiv eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Der BGH hat zunächst unmissverständlich ausgeführt, dass es für den Anspruch auf Erstattung des Verdienstausfalls nicht erforderlich ist, dass der Kläger objektiv arbeitsunfähig ist. Vielmehr hat er betont, dass es ausreichend ist, wenn der Kläger sich als arbeitsunfähig ansehen musste, weil er auf die ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit berechtigterweise vertraut hat.
Der BGH hat dazu klarstellend ausgeführt, dass eine Arbeitsunfähigkeit nicht nur dann vorliegt, wenn es dem Arbeitnehmer aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist, seine vertraglich geschuldete Tätigkeit auszuüben. Beispielhaft kann hier genannt werden, dass er etwa ein Körperteil nicht bewegen kann oder aufgrund einer Erkrankung ein gesetzliches oder behördliches Beschäftigungsverbot besteht. Eine Arbeitsunfähigkeit ist auch dann gegeben, wenn die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit aus medizinischer Sicht nicht vertretbar ist, weil die Heilung nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert wird. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG. Letztlich ist der Arbeitnehmer auf die Einschätzung des behandelnden Arztes angewiesen. In besonderer Weise gilt dies, wenn die Ursache der Arbeitsunfähigkeit darauf zurückzuführen ist, dass die Heilung durch eine Arbeitsaufnahme verzögert oder verhindert wird. Kurzum, so der BGH, kann der Arbeitnehmer einen Verdienstausfallsschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und aus diesem Grunde nicht zur Arbeit geht.
Da der Verdienstausfall als Schaden auf dem Unfall beruhen muss, ist der Kläger zunächst gehalten darzulegen und zu beweisen, dass auch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf diesem beruht. Dies gilt schon insofern, als der Arzt die Ursache der Arbeitsunfähigkeit selbst nicht feststellt, also dieser insoweit kein Beweiswert zukommt.
Darüber hinaus muss der Kläger darlegen, dass er berechtigt auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und die damit verbundene Feststellung des Arztes vertraut hat. Hierfür ist er darlegungs- und beweispflichtig, die Anforderungen hieran sind hoch. So setzt dies voraus, dass er den Arzt vollständig und zutreffend, vor allem über seine empfundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, informiert hat, welche dieser zur Grundlage seiner Beurteilung macht. Zudem muss das ärztliche Verfahren zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit so gestaltet sein, dass der Patient zu Recht annehmen darf, dass die Feststellung zutreffend ist und auch einer späteren Überprüfung standhalten würde. Auf dieser Grundlage hat dann das Gericht zu beurteilen, ob ein berechtigtes Vertrauen auf die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Arbeitnehmer vorliegt. Da die Vorinstanzen hierzu keine näheren Feststellungen getroffen haben, hat der BGH die Sache zur Neuverhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Diese Entscheidung zeigt, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht unerschütterlich ist und im Einzelfall nähere Ausführungen von dem Betroffenen erwartet werden, weshalb er auf diese vertraut hat. Dazu ist zu empfehlen, auf eine gute Dokumentation seiner Beschwerden beim Arzt zu achten und auch das ärztliche Verfahren im Blick zu behalten. Bezüglich letzterem kann ein Blick in die so genannte Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie angeraten sein.
Dr. René von Wickede, Pflüger Rechtsanwälte GmbH
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