eNews 85 | Februar 2023

Beweisverwertungsverbot bei Verstoß des Arbeitgebers gegen Betriebs­vereinbarung?

Darf ein Arbeitgeber Daten, die er unter Verletzung einer Betriebsvereinbarung erhoben hat, in einem Kündigungsschutzprozess verwenden? Betriebs­vereinbarungen zu technischen Einrichtungen, zum Beispiel der Anwesenheits- oder Arbeits­zeit­erfassung, enthalten regel­mäßig Vorgaben zu Zweck und Umfang der zulässigen Daten­erhebung. In einer neueren Entscheidung hatte sich das Landes­arbeits­gericht (LAG) Nieder­sachsen damit aus­einander­zu­setzen, ob der Arbeit­geber unter Verstoß gegen die Betriebs­verein­barung erhobene Daten zur Recht­fertigung einer Kündi­gung heran­ziehen kann (Urteil vom 06.07.2022, Az. 8 Sa 1148/20).

Der Arbeitgeber hatte das Arbeits­verhältnis mit dem betroffenen Arbeit­nehmer außer­ordentlich fristlos gekündigt. Dem Mitarbeiter wurde unter anderem vorge­worfen, hinsicht­lich einer kompletten Nacht­schicht Arbeits­zeit­betrug begangen und an einem anderen Tag das Werks­gelände 22 Minuten vor Schicht­ende verlassen zu haben.

Zum Beweis der behaupteten Pflicht­verletzungen berief sich der Arbeit­geber auf Daten aus Karten­lesern zur elektronischen Anwesenheits­erfassung. Beim Betreten und Verlassen des Werks­geländes hatten die Mitarbeiter personali­sierte Chip­karten vor das Lese­gerät zu halten, wodurch die Anwesenheit dokumentiert wurde. An dem Tag der Nacht­schicht habe der Arbeit­nehmer ausweislich des Karten­lese­geräts das Werks­gelände um 18:31 Uhr betreten und um 20:58 Uhr verlassen, obwohl die Nacht­schicht in der Zeit von 21:30 Uhr bis 05:30 Uhr zu leisten war. Auch hinsicht­lich des zweiten Vorwurfs sei das Verlassen des Werks­geländes 22 Minuten vor Schichtende durch den Karten­leser dokumentiert worden.

Das LAG Niedersachen gab der Kündigungs­schutz­klage statt und stellte die Unwirk­sam­keit der Kündi­gung fest. Der Arbeit­geber habe die behaupteten Pflicht­verletzungen des Mitarbeiters nicht bewiesen.

Die Daten aus dem Kartenleser könne der Arbeit­geber nicht als Beweis­mittel in den Prozess einführen. Die erfolgte Daten­erhebung wider­spreche der geltenden Betriebs­vereinbarung zur elektro­nischen Anwesen­heits­erfassung. Darin hatten Arbeit­geber und Betriebsrat geregelt, dass die Anwesenheits­erfassung in Form eines „elektronischen Hakens“ erfolgt. Zweck der Erfassung ist danach einzig, dass die jeweiligen Vorgesetzten früh­zeitig über die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter informiert werden. In der Betriebs­vereinbarung ist weiter geregelt, dass keine (darüber hinausgehende) personen­bezogene Aus­wertung der Daten erfolgt.

Das Gericht stellte fest, dass sich der Arbeit­geber an die Regelungen der Betriebs­vereinbarung halten müsse. Aufgrund der unmittel­baren und zwingenden Wirkungen könne sich der betroffene Arbeit­nehmer auf die Betriebs­vereinbarung berufen. Durch den Abschluss der Betriebs­vereinbarung habe der Arbeit­geber eine „berechtigte Privat­heits­erwartung“ der Arbeit­nehmer begründet. Dies führe hier zu einem Beweis­verwertungs­verbot. Das gelte selbst dann, wenn der Betriebs­rat nachträglich die Zustimmung zur Aus­wertung der Daten erteile. Eine rückwirkende Beseitigung der den Arbeit­nehmern durch Betriebs­vereinbarung eingeräumten Rechte sei nicht möglich.

Gegen das Urteil, welches noch weitere Beweis­verwertungs­fragen behandelt, ist Revision beim Bundes­arbeits­gericht eingelegt worden (Az. 2 AZR 297/22).

Die Entscheidung des LAG Niedersachsen ist bemerkenswert, da sie sich gegen die bisherige Linie des Bundes­arbeits­gerichts (BAG) stellt. Das BAG geht davon aus, dass auch unter Verstoß gegen Betriebs­vereinbarungen gewonnene Erkenntnisse gegen Arbeit­nehmer prozessual verwertet werden können (Urteil vom 13.02.2007, Az. 2 AZR 537/06). Weder das Zivil­prozess­recht noch das Betriebs­verfassungs­gesetz (BetrVG) kenne ein ausdrück­liches Beweis­verwertungs­verbot für solche Fälle. Durch das Verbot einer Verwertung von Partei­vortrag werde zudem der verfassungs­rechtlich geschützte Anspruch auf recht­liches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) umfassend eingeschränkt.

Es wäre zu begrüßen, wenn sich die Recht­sprechung des LAG Niedersachsen durch­setzen würde. Das Beweis­verwertungs­verbot stellt ein wirksames Mittel dar, um Verstöße gegen Betriebs­vereinbarungen zur Daten­erfassung und -verwendung von vorne­herein zu unter­binden. Betriebs­räte befinden sich häufig in der Situation, dass sie nur unzu­reichend über­prüfen können, ob der Arbeitgeber durch Betriebsvereinbarung festgelegte Beschränkungen beim Umgang mit Daten letztlich beachtet. Die betriebs­verfassungs­rechtlichen Sanktions­möglich­keiten – insbesondere der Unter­lassungs­anspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG – reichen hierfür in der Regel nicht aus. Sie setzen voraus, dass der Betriebs­rat von der Verwendung von Daten in einem indivi­duellen Arbeits­gerichts­prozess überhaupt erst Kenntnis erlangt. Auch dann kann der Betriebs­rat nur reaktiv und im Einzel­fall tätig werden. Schließlich schützt das betriebs­verfassungs­recht­liche Vorgehen des Betriebs­rats den betroffenen Arbeit­nehmer nicht in seiner prozessualen Lage, was für den Arbeit­geber Anreize für weitere Verstöße gegen einschlägige Betriebs­verein­barungen schaffen kann.
 
Dr. Andreas Lutz, Pflüger Rechtsanwälte GmbH

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